Donnerstag, 17. März 2011

Donnerstag, 17.03.2011 am Abend

Heute sind mein Mann und ich dann doch nach Nagoya gefahren. Die deutsche Botschaft hat inzwischen allen Deutschen dringlicher geraten, sich aus Tokyo weg zu begeben.

Es hat zwei Tage gedauert, sich dazu zu entschließen. Zwischendurch kam ein Gefühl des endgültigen Verlassens auf: nie mehr auf meinem so schön renovierten Sofa sitzen, mein Bett ist mir so lieb, den Hasen einfach da lassen?

Dann aber fiel es mir heute ziemlich leicht. In den letzten Tagen waren einfach zu viele Anfragen von diversen Medien. Irgendwann kann man dann nicht mehr. Die ständige Anspannung kommt nicht von der bedrohlichen Lage des Reaktors Fukushima, sondern von den vielen Anrufen der verschiedensten Sender, für die man hellwach sein soll, damit man nicht Unsinn redet.

Auf der Fahrt nach Nagoya fiel mir ständig das Requiem von Johannes Brahms ein: Herr, lehre mich doch, dass ein Ende mit mir haben muss und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muss.

Fulbert Stephenski hat gesagt: „Nur endliche Wesen sind geschwisterliche Wesen.“  Wer dem Gedanken nicht ausweicht, dass das Menschenleben endlich ist, wird sich vielleicht leichter mit denen verbinden, die jetzt so unvorstellbar hart mit dieser Endlichkeit konfrontiert sind, weil sie auf grässliche Weise Angehörige und Freunde verloren haben.

Wer sich nicht endlich denken kann/will(?), muss vielleicht zutiefst um sein eigenes Leben fürchten in Zeiten so unheimlicher Bedrohung wie jetzt.

Ich bin sehr dankbar, dass wir doch Gottesdienst gefeiert haben. Ein wichtige Erfahrung dabei war für mich das Fürbittengebet. Wir sind im normalen Leben so daran gewöhnt, uns mit uns selber zu beschäftigen. Uns weiterzuentwickeln, dazu zu lernen, unsere Arbeit zu tun, unsere Beziehungen zu pflegen. In der Fürbitte bewegen wir uns weg von der Beschäftigung mit uns selbst und erweitern unseren Horizont, lassen auch andere in den Radius unserer Sorge, unserer Bitten und Wünsche. Hier unser Gebet von gestern:

Fürbitten
Lasst uns beten für alle Menschen, die von diesen schrecklichen Ereignissen getroffen sind:
Wir sprechen gemeinsam: Herr, tröste du sie
Wir bitten für alle, die ihre Angehörigen verloren haben.
Herr, tröste du sie
Für alle, die ihre Angehörigen suchen
Herr, tröste du sie
Für alle, die Kälte und Unbequemlichkeit ertragen müssen
Herr, tröste du sie
Für alle, die vor dem Nichts stehen
Herr, tröste du sie
Für alle, die die Körper der Verstorbenen bergen müssen
Herr, tröste du sie
Für alle, die nicht wissen, wie es weitergeht
Herr, tröste du sie
Für alle, die seit Tagen nicht gut geschlafen haben
Herr, tröste du sie
Für alle, die seit Freitag im Einsatz sind, um zu helfen
Herr, tröste du sie
Für alle, die in gefährlicher Nähe des Kraftwerks Fukushima sind
Herr, tröste du sie
Für alle, die nicht aus ihren Häusern dürfen
Herr, tröste du sie
Für alle, die seit Tagen Informationen sammeln, filtern und herausgeben müssen
Herr, tröste du sie
Für alle, die beim besten Bemühen Fehler machen
Herr, tröste du sie
Für alle, die sich seit Tagen verzweifelt bemühen, die Gefahren des Reaktors von uns allen abzuwenden
Herr, tröste du sie
Für alle, die ihr Leben dabei aufs Spiel setzen,
Herr, tröste du sie
 Wir danken dir für die Menschen, die das auch für uns tun. Gott, wir sind nicht würdig, aber wir flehen um deine Gnade. Amen.

Heute hat mein Mann einen Twitter entdeckt, in dem eine junge Frau einen Brief an den NHK schreibt über ihren Vater, der derzeit an der Stabilisierung des Reaktors in Fukushima arbeitet:  
Ministerpräsident Kan hat zum Chef von Tepko gesagt: Seid gefasst.  Außer euch kann niemand dieses Problem lösen. Seid gefasst klang uns wie ein Todesurteil. Mein Vater kämpft dort am Reaktor in Fukushima und ist sich bewusst, wie gefährlich es ist. Er ist darauf gefasst, dass sein Risiko groß ist. Er ist darauf gefasst, dieses Risiko einzugehen. Es gibt kaum Zeit, auch nur zu Essen,  keine Ruhe. Rund um die Uhr kämpfen sie in Fukushima mit wenigen Leuten. Deshalb: denkt bitte auch an die Kämpfer.
Und einen anderern Twitter:
Morgen geht mein Vater zum Reaktor nach Fukushima.  In einem halben Jahr geht er in Rente. Aber er hat sich freiwillig gemeldet, nach Fukushima.
Bisher habe ich immer gedacht: mein Vater ist nicht einer, an den ich mich im Notfall wenden würde. So wirkte er immer zu Haue. Heute habe ich zum ersten Mal Stolz auf meinen Vater empfunden.

Die S-Bahnen in Tokyo sind nun nicht mehr geheizt. Die Hälfte aller Lampen in der Öffentlichkeit ist ausgeschaltet. Und das ist überhaupt keine Einschränkung. Im Gegenteil, ich habe das Gefühl, wir kommen hier in Tokyo langsam auf den Boden der Realität. Was haben wir sorglos Strom verschwendet, und den Luxus ständiger Festbeleuchtung geleistet, die Überheizung vieler Räume…

Jetzt mit der Reduzierung von Licht und Wärme habe ich mehr und mehr das Gefühl von Normalität. Es besteht eine Chance, ein vernünftiges Maß zu finden.

Und immer wieder sind Menschen zu sehen, die ihre Angehörigen suchen. Ein Mann läuft zwischen den Trümmern und sagt: wenn ich das hier sehe, ist mir klar, dass es keine Hoffnung gibt.
Aber mir ist der Gedanke unerträglich, dass meine Familienangehörigen irgendwo verbrannt (kremiert) werden und ich weiß nicht wo.

Aus einem Rathaus im Erdbebengebiet: Bitte rufen Sie uns nicht mehr an, um uns zu sagen: gebt nicht auf, wir machen euch Mut!  Das ist ein totaler Stress für uns, so mit Anrufen bombardiert zu werden. Außerdem blockieren Sie unsere Leitungen für die notwendige Kommunikation.

Meine Schwägerin:  Regierungssprecher Edano verdient ein ganz großes Lob! Wie sachlich, kompetent, nüchtern und gut verständlich kommt er rüber. Setzt seine Worte sehr vorsichtig und genau, vermeidet alles, was Anlass geben könnte zu Gerüchten oder Falschmeldungen oder gar zur Panik.

So versuchen wir zu verstehen, mitzufühlen, uns nicht abzuwenden. Euch manches mitzuteilen.

Herzliche Grüße

Elisabeth Hübler-Umemoto und Naoto Umemoto