Mittwoch, 23. März 2011

22.03.2011 am Abend

Allmählich sammeln sich die Stimmen aus den Reihen der deutschen Community, die während der ganzen Zeit seit dem 11.03.2011 in Tokyo geblieben sind.

Ein Gemeindeglied schrieb mir: Nun habe ich 50 Jahre darum gekämpft, in Japan akzeptiert und integriert zu werden, da würde ich es als Verrat an den Menschen hier empfinden, mich nach Deutschland zu begeben, während die Menschen hier leiden.

Einige Journalisten schlagen ähnliche Töne an:
Nachzulesen unter

und


Diese beiden Links wurden mir von Gemeindegliedern geschickt, die in Tokyo geblieben sind.

Ein anderes Gemeindeglied  schrieb den offenen Brief an die Deutsche Botschaft in Tokyo, den ich euch weitergegeben hatte. Ich hoffe, dass beide „Seiten“ sich wieder miteinander versöhnen können, wenn sich das Leben in Tokyo normalisiert hat.

Eine Freundin schrieb mir vor einigen Tagen: „Es gibt in solch extremen Erfahrungen keine richtige oder falsche Entscheidung, gehen oder bleiben.“  Jede und jeder hat seine und ihre Gründe und Verantwortlichkeiten wahrzunehmen.
Auch wir bekamen immer wieder tiefe Ängste, wenn wieder jemand gegangen war, mitgerissen, weggerissen von der Welle der Besorgnis aus Deutschland.
Wir möchten jetzt bald weiterarbeiten, damit wir im Rahmen unserer Möglichkeiten den Menschen helfen können, die so unendliches Leid getroffen hat.


23.03.2011 am Morgen
Jetzt zeigen die Medien, wie der Chef von Tepco in Notunterkünfte geht, um sich vor den von den AKW-Störungen unmittelbar Betroffenen zu verbeugen. Das ist in Japan eine unbedingt erforderliche Geste. Die Verantwortlichen müssen öffentlich zu ihrer Schuld stehen und sich im Ausdruck tiefen Bedauerns verbeugen.
Diesmal finden die Männer kaum Beachtung, allenfalls kalte Blicke. Ein Betroffener gab vorwurfsvoll zur Antwort: Ihr habt unsere Heimat zerstört, beeilt euch und seht zu, wie ihr den Schaden begrenzen könnt. Findet eine Lösung. Insgesamt scheinen die Menschen nach 12 Tagen in Notunterkünften zu erschöpft, um die Verantwortlichen wirklich zu konfrontieren.

Eine Journalistin nannte mich zynisch, als ich sagte, man lebt hier mit der Möglichkeit, bei einer Naturkatastrophe zu sterben. Aber wenn man die vergangenen 40 Jahre anschaut:
1960 war in Miyagi ebenfalls ein Erdbeben mit großem Tsunami. Ein 78-jähriger erzählte, dass er nun in seiner Lebenszeit zwei Mal alles verloren hat.
Vor 30 Jahren fegte ein Taifun über Nagoya, in dessen Hochwassermassen 6000 Menschen starben. Die Stadt hat ein Gedenk-Monument aufgebaut und einen Gedenktag eingerichtet.
Vor 17 Jahren starben im großen Kobe-Erdbeben 6434 Menschen, 4600 davon unmittelbar in der Stadt Kobe.
Und auch das letzte große Beben in Niigata hat viele Opfer gefordert.
Die jetzige Katastrophe hat in diesem Ausmaß in der japanischen Geschichte ein Beispiel. Vor 1200 Jahren ist ein Riesenerdbeben mit Tsunamis und vielen Toten historisch belegt. Allerdings gab es damals keine Kernkraftwerke.
Dennoch betrachten die Menschen hier dieses Land mit seiner rauen Natur als Heimat. Sie haben im Laufe der Zeit viele Verhaltensregeln entwickelt, um mit den möglichen Gefahren umzugehen.

Inzwischen sind schon eine große Anzahl Erdbebenopfer provisorisch umgesiedelt.
Auch hier hat man von vergangenen Ereignissen gelernt. Als vor 11 Jahren der Vulkan Oyama auf der Insel Miyake  ausbrach, wurden 14.200 Bewohner umgesiedelt. Sie kamen alle in die Stadt Ichikawa, nördlich von Tokyo. Dort war gerade eine Neubausiedlung fertig gestellt. Die Behörden stoppten die Mietverträge und siedelten alle Bewohner von Miyake an diesem Ort an. 
Zu dem Schock, die Heimat verlassen zu müssen, sollte nicht auch noch die Trennung von den Menschen kommen, die sich in der Not gegenseitig unterstützen können, weil sie dieselbe Erfahrung teilen. Erst im Jahr 2005 konnten die Bewohner der Insel Miyake wieder zurück in ihre Heimat. Manche sind nach so vielen Jahren dann aber doch am neuen Ort geblieben.

Seit dem Kobe-Beben vor 17 Jahren ist hier in Japan viel über Verbesserungen im Katastrophenschutz nachgedacht worden. Vor 5 Jahren wurde ein neues Gesetz verabschiedet, nach dem öffentliche Gebäude, besonders Holzkonstruktionen, bautechnisch erdbebensicher gemacht werden müssen. Unsere evangelische Gemeinde hat daraufhin die Kirche renovieren und stabilisieren lassen. Jetzt bauen wir ein ganz neues Pfarrhaus aus demselben Grund.

Auch die Organisation der freiwilligen Helfer im Katastrophenfall ist landesweit ganz neu geregelt worden. Als erstes helfen nur die professionellen Organisationen. Zugang zum Katastrophengebiet ist für alle anderen gesperrt. Dann geben Rathäuser und Präfektur-Regierungen Listen heraus, aus denen man ablesen kann, welche Sachspenden wo und wann abgegeben werden können.
Dennoch klappt die flächendeckende Verteilung nicht immer hundertprozentig. Manchmal werden einfach zu viele gleiche Dinge in eine Notunterkunft geliefert und andere fehlen dafür. Aber alle bemühen sich nach Kräften. Freiwillige Helfer warten jetzt manchmal mehrere Stunden, bis sie irgendwo eingeteilt werden. Alles will eben organisiert sein.

Wir in unserer evangelischen Gemeinde können jetzt Sachspenden abgeben. Aber bis wir gezielt ein bestimmtes Projekt an einem bestimmten Ort unterstützen können, wird noch einige Zeit vergehen.

Danke für Ihr/Euer Mitfühlen mit den Menschen im Erdbebengebiet.

Elisabeth Hübler-Umemoto